Boualem SANSAL
DAS DORF DES DEUTSCHEN

Das Tagebuch der Brüder Schiller
Roman
Deutsch von Ulrich Zieger
280 S., kart., EUR 15,80,--
ISBN 978-3-87536-281-7


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Leseprobe
"Das Dorf des Deutschen"

Malrichs Tagebuch
Oktober 1996

Es sind jetzt sechs Monate, dass Rachel tot ist. Er war dreiunddreißig Jahre alt. Eines Tages, das ist zwei Jahre her, ist irgendwas in seinem Kopf kaputtgegangen, er fing plötzlich damit an, zwischen Frankreich, Algerien, Deutschland, Österreich, Polen, der Türkei und Ägypten hin- und herzujagen. War er nicht auf Reisen, dann las er, hockte grübelnd in seiner Ecke, er schrieb, er delirierte. Er büßte die Gesundheit ein. Dann seine Arbeit. Dann den Verstand. Ophelia hat ihn sitzen lassen. Eines Abends hat er sich umgebracht. Das war am 24. April dieses Jahres 1996, gegen 23 Uhr.

Ich wusste nichts von seinen Problemen. Ich war jung, ich war siebzehn, als dieses Irgendwas in seinem Kopf zerbrach, ich war auf der schiefen Bahn. Rachel sah ich selten, ich mied ihn, er ging mir mit seinem Gewäsch auf den Wecker. Ich bedaure es, das zu sagen, er ist mein Bruder, aber dermaßen angepasst, da kriegst du die Krise. Er hatte sein Leben, ich hatte meins. Er war leitender Angestellter in einem amerikanischen Riesenkonzern, er hatte seine Tussi, sein kleines Häuschen, seinen Schlitten, seine Kreditkarte, sein Tagesablauf war geregelt, ich schlich rund um die Uhr mit den Abgebrannten aus der Siedlung um die Ecken. Sie ist als ZUS-1, empfindliche urbane Zone erster Kategorie eingestuft. Keine Zeit zum Ausruhen, man kommt aus dem einen Crash und schlittert in den nächsten. Eines Morgens hat Ophelia angerufen, um uns das Drama zu verkünden. Sie hatte bei ihrem Ex im Pavillon vorbeigeschaut, um zu sehen, was es Neues gibt. Ich ahnte etwas, hat sie gesagt. Ich sprang auf das Moped von Momo, dem Sohn des Schächters, und gab Gas. Da waren Leute vor dem Häuschen, die Polizei, der Rettungswagen, die Nachbarn, die Schaulustigen. Rachel war in der Garage, auf dem Fußboden sitzend, Rücken gegen die Wand, Beine ausgestreckt, das Kinn auf der Brust, den Mund offen. Es sah aus, als würde er dösen. Sein Gesicht war von Ruß bedeckt. Die ganze Nacht über hatte er im Auspuffgas seines Schlittens gebadet. Er trug einen seltsamen Schlafanzug, einen gestreiften Schlafanzug, den ich nicht an ihm kannte, und er hatte den Kopf kahl geschoren wie im Straflager, ganz schief und krumm. Wie eigenartig das ist. Ich schluckte es ohne zu mucken. Ich begriff es noch nicht. Der Notarzt sagte zu mir: Ist das dein Bruder? Ich habe gesagt: Ja. Er hat gesagt: Scheint dich nicht sonderlich zu beeindrucken? Ich zuckte die Schultern und bin ins Wohnzimmer gegangen.


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